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Zukunftsforscher: Das Bild zeigt eine Hand, die einen Kompass mit Deckel hält.© GettyImages/Kan Taengnuanjan / EyeEm

Zukunftsforschung: Werte im Wandel

Unsere Gesellschaft und unsere Wertvorstellungen sind ständig im Wandel – doch wo geht die Reise hin? Ein Gespräch mit der Zukunftsforscherin Cornelia Daheim.

Frau Daheim, die Zukunft erforschen – geht das überhaupt? Und wenn ja, wie?

Das geht auf jeden Fall. Unser Job als Zukunftsforscher ist aber nicht zu sagen, was sein wird, sondern was sein könnte. Dafür schauen wir uns beispielsweise verschiedene Trends an. Wir versuchen systemisch beziehungsweise ganzheitlich zu denken, denn oft beeinflusst eine gesellschaftliche Veränderung wiederum eine andere.

Ein Beispiel: Wenn viele Menschen zuhause arbeiten, sind die Straßen leerer. Deshalb haben manche Städte Kurzzeit-Radwege eingerichtet. Das wiederum weckt bei manchem Bus- oder Autofahrer womöglich das Interesse fürs Radfahren. Hier beeinflussen sich also zwei unterschiedliche Trends und wir versuchen bei unseren Szenarien, möglichst das ganze Bild zu betrachten.

Es bewahrheiten sich aber längst nicht alle Ihrer Prognosen.

Diese Absicht hat Zukunftsforschung gar nicht. Mit den Analysen als Basis werden mögliche Szenarien erstellt, wie sich etwas in der Zukunft entwickeln könnte. Manchmal wünscht man sich auch gar nicht, dass ein Szenario Realität wird und versucht, es aktiv zu verhindern. Das war beispielsweise beim Ausbreiten des Ozonlochs der Fall. Diese Entwicklung wurde zum Glück gestoppt oder zumindest verlangsamt.

Wie entsteht unser persönliches Wertegerüst?

Ein Wert ist per Definition eine grundlegende Orientierung, die einem selbst wichtig ist. Die persönlichen Werte werden stark vom privaten Umfeld beeinflusst, also vor allem von der Familie, aber auch von Freunden. Aber Werten folgen nicht automatisch Handlungen. Vielen ist beispielsweise Umweltschutz wichtig, aber es fällt dann doch schwer, im Alltag an allen Stellen darauf zu achten. Oft ist man sich der eigenen Werten gar nicht bewusst. Man richtet sich instinktiv nach ihnen aus. Damit formen sie auch die Gesellschaft.

Was ist den Deutschen wichtig? Ergebnisse der aktuellen Wertestudie, an der Cornelia Daheim mitgearbeitet hat:

Welche Werte sind den Deutschen wichtig? Lesen Sie hier alle Ergebnisse der aktuellen Studie des Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF): "Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land". Hier geht es direkt zur Kurzfassung oder zur Langfassung.

Wie genau funktioniert das?

Werte sind auch immer Leitlinien dafür, wie eine Einzelperson sich die Gesellschaft wünscht. Wem Zusammenhalt wichtig ist, der wünscht sich auch, dass seine Mitmenschen mehr aufeinander achten. Damit ändern Werte natürlich auch die Gesellschaft. Besonders wenn sich die Werte der Menschen ändern.

Welche Werte haben sich denn wenig verändert?

Familie zum Beispiel. Die war in den 1950er-Jahren genauso wichtig, wie sie es heute ist. Aber der Wert ist heute anders aufgeladen, weil sich die Definition von Familie verändert hat. Es gibt neue Familienmodelle, Patchwork-Familien und auch die Erziehungsmodelle haben sich geändert.

Manchen fällt es leichter, anderen schwerer, mit gesellschaftlichen Veränderungen umzugehen. Warum ist das so?

Das hängt stark von den eigenen Überzeugungen und eingeübten Handlungsweisen ab. Manche legen viel Wert darauf, den eigenen Status Quo zu erhalten. Da kann Anpassung sicherlich zur Belastung werden. Es ist deshalb wichtig, dass man das Gefühl hat, Veränderungen nicht hilflos ausgesetzt zu sein. Man braucht das Gefühl, Einfluss auf sie nehmen zu können.
Das macht beispielsweise die aktuelle Situation für viele so schwer: Man muss das Virus erst erforschen, es gibt viele Unklarheiten und Unsicherheiten.

Beim Thema gesellschaftlicher Wandel kann es helfen, wenn man mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, Meinungen oder Wertvorstellungen in Berührung kommt. Das macht einen meist offener für Veränderungen, weil sie nicht mehr so weit von einem selbst entfernt und damit so schwer einzuschätzen sind. Man wird vielleicht ein bisschen gelassener.

Wie kommt man am besten mit unterschiedlichen Menschen in Berührung?

Da helfen beispielsweise Sportvereine. Gerade junge Menschen spricht das jedoch oft nicht mehr an. Deshalb braucht es auch Freizeiteinrichtungen, um die Vereine zu ergänzen. Auch die Stadtplanung muss sich anpassen, man braucht mehr freie Flächen, auf denen Menschen miteinander in Kontakt kommen können. Was mich bei mir in Köln begeistert hat, sind Bürgergruppen, die Stadtflächen bepflanzen und pflegen. Da treffen die Rechtsanwältin und der Sozialhilfeempfänger aufeinander.

Stoßen große Ereignisse oder Krisen Veränderungen besonders stark an? Wie beeinflussen sie unsere Gesellschaft?

Großereignisse verstärken oft bereits vorhandene Tendenzen oder beschleunigen sie. So ist es jetzt beim Thema Home-Office. Im vergangenen Jahr war das noch eher die Ausnahme. Viele befürchteten, dass die Leute zuhause weniger produktiv seien. Jetzt musste radikal auf Home-Office umgestellt werden und siehe da: Es funktioniert.

Wie verändern die aktuellen Ereignisse unsere Gesellschaft?

Die langen Wochen zuhause haben uns allen gezeigt, wie das Leben ohne Abende im Biergarten, Treffen im Kino oder dem Kindergarten ist. Das hat deutlich gemacht, wie wichtig das Zwischenmenschliche, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Solidarität sind. Denn es gab auch einen neuen Solidaritätsschub, wie Nachbarschaftsgruppen, die rasch Unterstützung wie einen Einkaufsservice für Menschen aus Risikogruppen organisiert haben. Das kann sich auch in Zukunft fortsetzen.

Außerdem haben wir gelernt, wie radikal wir als Gesellschaft umsteuern können, wenn wir nur wollen. Das kann ein Augenöffner sein, weil wir sehen, wie viel wir verändern können, wenn wir uns nur gemeinsam hinter ein Ziel stellen. Zusätzlich erleben wir gerade einen großen Schub für die Digitalisierung.

Wie digital wird unsere Gesellschaft?

Ich glaube, dass Home-Office ein fester Bestandteil unseres Arbeitsalltages wird. Aber auch andere Formen von Remote Work wie Nachbarschaftsbüros könnten sich durchsetzen. Das würde viel Druck aus der Lebensgestaltung der Menschen nehmen. Sie müssten weniger pendeln und hätten mehr Flexibilität bei der Wahl des Wohnortes.

Außerdem wurde auch die Bildung in den vergangenen Monaten digitaler. Jetzt müssen dafür die passenden Kompetenzen geschaffen und die richtigen Werkzeuge bereitgestellt werden. Die müssen dann auch allen Kindern zugänglich gemacht werden. Wichtig ist es, am Ende einen guten Umgang damit zu finden, denn natürlich soll nicht alles zuhause stattfinden.

Die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen die Digitalisierung angetrieben - doch auch das Analoge hat seinen Reiz. Lesen Sie hier mehr über die "schöne alte Welt" der Schallplatten und Analogfotografie. 

Zugespitzt gesagt: Braucht es manchmal Krisen, damit sich etwas ändert?

Das wünsche ich mir nicht und glaube ich auch nicht. Krisen können jedoch ein Beschleuniger sein, so war es ja beispielsweise nach den Ereignissen in Fukushima: Die Debatte über Risiken der Atomkraft war davor auch schon da, aber plötzlich sind Entscheidungen viel schneller getroffen worden.

Wie geht es in der aktuellen Situation weiter?

Dafür gibt es viele Szenarien, genau kann man das noch nicht sagen. Es gibt bereits erste Trends, doch wir müssen uns als Gesellschaft erst noch darauf einigen, was wir wollen und was machbar ist.

Wie gelingt eine solche Einigung?

Ich glaube, wir müssen darauf achten, dass alle Veränderungen sozial gerecht gestaltet sind. Das war in den vergangenen Monaten ja schon vielen wichtig. Wir dürfen nicht jeden seinem Schicksal überlassen, sondern müssen an alle denken, und uns besonders mit denen solidarisieren, die weniger Privilegien haben. Dass Zusammenhalt und Gemeinschaft den meisten Menschen in Deutschland besonders wichtig sind, zeigt auch die aktuelle Wertestudie des Vorausschau-Prozesses des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) in aller Deutlichkeit. Bei allen natürlich existierenden Konfliktlinien gibt es also durchaus eine große gemeinsame Basis an Werten, die Grundlage der neuen Weichenstellung sein sollte und kann

Welchen Einfluss hat Sprache auf das, was wir als normal empfinden?

Sprache hat eine große Bedeutung. Nehmen Sie nur Begriffe wie das „Social Distancing“. Dabei geht es eigentlich um physische Distanz, aber der Begriff suggeriert unterbewusst auch, dass man vom Sozialen Abstand nehmen soll. Dabei ist Abstand halten während einer Pandemie schon für sich gesehen sozial, denn wir denken an andere und wollen sie schützen.

„Physical Distancing“ ist also der passendere Begriff, den ich auch benutze, um damit andere Assoziationen hervorzurufen. Es ist schlicht wichtig, seine Sprache nach Möglichkeit mit Vorsicht zu wählen, denn sie prägt auch unsere Vorstellung und Verständnis der Welt. Ich würde auch nicht von einer Rückkehr zur alten Normalität sprechen, sondern von einer neuen Normalität. Denn in unserer Gesellschaft ändert sich gerade vieles – auch zum Positiven – und damit sollten wir umgehen und das auch zum Guten nutzen, auch für neue Weichenstellungen.

Haben Sie ein persönliches Wunschszenario für die Zukunft?

Wie viele andere auch, freue ich mich, dass soziale Aspekte in den Fokus gerückt sind. Da sollten wir weitermachen und einmal überlegen, was für uns tatsächlich gutes Leben ausmacht. Spannend finde ich, dass wir gemerkt haben, wie schnell wir uns an Neues anpassen können. Ich würde mir deshalb mehr Wille zur Veränderung bei Themen wie Klimaschutz, erneuerbaren Energien oder Kreislaufwirtschaft wünschen.

Zur Person Cornelia Daheim, 47, berät als Expertin für Zukunftsthemen wie gesellschaftlicher Wandel und Zukunft der Arbeit mit ihrer Firma „Future Impacts Consulting“ Unternehmen sowie (politische) Organisationen. Sie ist Vorsitzende des Zukunftskreises des Vorausschau-Prozesses des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Dabei werden Zukunftsfelder und -themen identifiziert und analysiert, die an Bedeutung gewinnen. Wie in der aktuellen Studie zur Zukunft der Wertevorstellungen der Menschen in Deutschland: www.vorausschau.de.










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Kommentare

  • Wagner
    REPLY

    Finde die Themen gut gewählt. Würde bei der Zukunft sforschung auch gerne was über Ängste und Aggressionen lesen

    30. Oktober 2020

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