
Nichts ist, wie es scheint
Die magische Karodame? Löst sich in der Hand des Zauberkünstlers in Luft auf. Der vermeintliche Herzbube? Verschwindet mit dem Ersparten über alle Berge. Das stichbereite Pik-As? Entpuppt sich bei genauem Hinsehen nur als Pik-Zwei. Von Magie, Scharlatanerie und den menschlichen Sinnen auf Irrwegen.

Spielkarten sind Logemanns Zauberwerkzeug. Er nennt sie lieber seine 52 Freunde. © Eva Häberle
Tack, tick. Irgendwas stimmt hier nicht. Es war doch noch nicht so spät. Tack, tick. Laut der Uhr im Foyer des Hamburger Zaubertheaters Magiculum hätte die Vorstellung schon vor zehn Minuten beginnen sollen. Tack tick. Aber was steht da auf der Uhr? „Manchmal läuft alles verkehrt“. Und die Zeiger laufen… Tack, tick. …rückwärts. Tatsächlich beginnt die Vorstellung erst in zehn Minuten. Und doch hört man neu eintreffende Gäste immer wieder verschreckt ausrufen: „Was? Wir sind zu spät?“ Wenige Momente später folgt dann ein erleichtertes „Ah, das ist eine Spaß-Uhr“. Die erste Illusion des Abends – der zauberhafte Verlust und das magische Auffinden von 20 Lebensminuten – findet schon vor der Vorstellung statt.
Jan Logemann ist pünktlich. Er steht heute vor rund 30 Zuschauern auf der kleinen Bühne im Magiculum. Unmittelbar vor ihren Augen wechseln Spielkarten in Logemanns Händen ihr Bild. Er errät zufällig gezogene Karten blind, stibitzt andere Karten heimlich aus so mancher Hand und Tasche. Am Ende der Vorstellung lässt er den Ehering eines Zuschauers verschwinden, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Der Ring taucht schließlich in einer verschlossenen Tüte Gummibärchen wieder auf. Ein abgekartetes Spiel mit einem Gehilfen im Publikum? Nein, es war der Ring des Autors dieses Textes. Nach 90 unterhaltsamen Minuten sieht man in den Gesichtern der Zuschauer nurmehr zwei Ausdrücke: Die einen lächeln glücklich, die anderen schütteln ungläubig ob des eben Gesehenen den Kopf.
Doppeltes Spiel
Bereits zu Beginn hatte Logemann dem Publikum erklärt, dass er natürlich nicht zaubern kann. Alles sind Tricks, Fingerspiele und geschickte Ablenkungsmanöver. Und jeder weiß: Das stimmt. Fast erhofft man sich die eine oder andere Erklärung – doch stattdessen kokettiert Logemann: Er habe natürlich Spielkarten, die ihre Oberfläche ändern könnten. Außerdem nutze er für seine Tricks spezielle Haushaltsgummibänder, die einen Klettverschluss hätten. Und wiederum weiß jeder: Das stimmt natürlich nicht. Nur einer Zuschauerin entfährt ein enttäuschtes „Ach so.“ Irgendwann im Laufe des Abends weiß kein Zuschauer mehr, was geflunkert ist und was nicht. Und an der Nonchalance Logemanns sieht man, dass er weiß: Sein doppeltes Spiel – mit viel Witz vorgetragen – funktioniert.
Logemann war sowohl Weltmeister der Kartenkunst als auch Magier des Jahres. Sich selbst nennt er allerdings lieber: Zauberkünstler. Dabei betont er gezielt den Künstler. Er spielt nicht gern mit den Worten Zauberei und Magie. „In unserem Metier fragen sich tatsächlich viele Kollegen: Stelle ich die Zauberei und Magie in den Fokus – und tue so, als wären überirdische Mächte im Spiel? Darf man das überhaupt? Oder genügt es nicht, wenn die Zuschauer wissen: Von mir werdet ihr heute Abend auf eine nette Art belogen.“ Bei ihm sei alles Illusion. Lange geübte, handwerklich erarbeitete Kunststücke. Die meiste Zeit beim Vorbereiten einer neuen Nummer geht tatsächlich dafür drauf, die Handgriffe zu üben, immer und immer wieder. „Das Schönste bei jedem neuen Trick ist: Irgendwann kommt dieser Moment, an dem ich mir selbst glaube, dass ich die Karte habe verschwinden lassen. Auch wenn ich weiß, dass es nur ein Trick ist – für mich ist es in dem Moment echte Zauberei.“

Alles nur Tricks? Egal, das Publikum des Zauberkünstlers Jan Logemann ist dennoch verzaubert. © Eva Häberle
Logemann hätte seinen Ehrgeiz und sein Talent auch anders nutzen können. Wer über die Ramblas in Barcelona oder durch Montmartre in Paris spaziert, sieht sofort, was gemeint ist: Hütchenspieler, die beinahe genauso formvollendet wie Logemann ihre Kunststücke präsentieren, und nicht nur kleine Kügelchen unter Nussschalen verschwinden lassen, sondern auch so manchen Schein aus der Geldbörse argloser Touristen. „Vielleicht könnte man sich da technisch sogar noch etwas abschauen. Aber letztlich könnte ich so etwas mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Dafür wäre ich nicht skrupellos genug.“ Man muss nicht nach Spanien oder Frankreich reisen, auch in Hamburg liegen Zauberkunst und fauler Zauber geografisch nah beieinander: Wer vor dem Magiculum steht, muss sich nur umdrehen und sieht die Gefängnistürme des berüchtigten „Santa Fu“ hervorragen, wie die Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel liebevoll genannt wird.
Prestige, Macht und Geld

Sonja Veelen forscht zum Thema Hochstapler. © Katrin Binner
Ein berühmter ehemaliger Insasse des Santa Fu ist Mike Weppler, genannt Milliarden-Mike. Eines seiner zahlreichen Vergehen: Er verkaufte Villen, die ihm – nun ja – nicht wirklich selbst gehört haben. Während die meisten ihn einen Hochstapler nennen würden, bezeichnet er sich in Interviews gerne als Geschichtenerzähler. „Viele Hochstapler stellen sich hinterher sehr schillernd dar, um ihre Tat vor sich und anderen weniger verwerflich erscheinen zu lassen.“ sagt Sonja Veelen. Sie ist Autorin des Buches „Hochstapler – wie sie uns täuschen“ und arbeitet am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie an der Philipps-Universität Marburg. Beim Hochstapeln gehe es laut Veelen darum, anderen vorzumachen, man habe eine höhere soziale Position inne, als es in Wirklichkeit der Fall ist: „Hochstapler tun so, als seien sie reicher, wissender, ausgebildeter und angesehener. Dadurch erhoffen sie sich meist Prestige, Macht und Geld – oder leben schlicht unerlaubt ihren Traumjob. Manchmal ist es auch ein gefühlter großer sozialer Druck, der zum Hochstapeln antreibt, etwa den gescheiterten Medizinstudenten dazu verleitet, in sein Berufsleben zu starten, als hätte er die Prüfung ohne Mühe bestanden.“
Es ist fast ein wenig Paradox: Je größer der Schwindel, desto eher glauben wir dem Hochstapler. Ein Beispiel ist die Gaukelei des Victor Lustig: 1925 hatte der Hochstapler in der Zeitung gelesen, dass der Eiffelturm immer mehr verfällt und eventuell abgerissen werden solle. Kurzerhand gab er sich als stellvertretender Generaldirektor des Postministeriums aus und fälschte eine Ausschreibung, die den Eiffelturm zum Verkauf anbot. Er verschickte Einladungen zu Verkaufsverhandlungen an Pariser Schrotthändler – und tatsächlich kaufte einer von ihnen die 7.000 Tonnen Eiffelturm-Stahl für rund 50.000 Dollar, was heute etwa einem Wert von 700.000 Dollar entspricht. Lustig setzte sich mit dem Geld nach Wien ab. Der Schrotthändler ging derweil aus Scham nicht zur Polizei, was Lustig einen Monat später veranlasste, den Trick noch einmal zu versuchen, womit er jedoch scheiterte. Gefasst wurde er für den Coup dennoch nicht.
Wir alle gehen Hochstaplern allzu leicht auf den Leim. Das liege laut Veelen vor allem daran, dass sie bestimmte Mechanismen und Automatismen manipulieren, auf deren Funktionieren wir uns im Alltag verlassen müssen. Es ist ein wenig wie bei der Uhr im Foyer des Magiculum, von der wir selbstverständlich annehmen, dass sie uns nicht narren möchte. „Wir gehen grundsätzlich erst einmal davon aus, dass unser Gesprächspartner uns die Wahrheit erzählt. Wenn er dann auch noch bestimmte Symbole benutzt, mit denen wir Expertentum verbinden, etwa Mediziner-Fachjargon redet oder eine Richterrobe anhat, dann stärkt er damit unser Vertrauen noch“, sagt Veelen.
Das Schauspiel wird Realität
So betrachtet, gibt es deutliche Parallelen zwischen dem Hochstapler und dem Zauberkünstler: „Beide sind Meister der Täuschung und benutzen ähnliche Techniken. Beispielsweise die emotionale Ablenkung: Mit ihrem Charme und Witz bringen sie ihre Zuschauer oder Opfer dazu, nicht dorthin zu schauen, wo das Kunststück passiert, sondern nur dorthin, wo die Illusion wirklich wirkt“, sagt Veelen. Und wie beim Zauberkünstler, der plötzlich selbst an die Magie in seinem Stück glaubt, tricksen sich auch Hochstapler des perfekten Eindrucks wegen schon mal selbst aus. „Am überzeugendsten wirkt ein Hochstapler, der selbst an seine Lüge glaubt“, so Veelen. „Wer ohne Lizenz eine Passagiermaschine fliegt, wird für einen Piloten gehalten, und auch so behandelt. Dadurch verschmelzen das Selbst und die Rolle mehr miteinander.“
Warum wir in den meisten Fällen weder Hochstapler enttarnen noch Magier entzaubern können, hängt auch damit zusammen, wie unser Gehirn funktioniert. „Wir nehmen immer nur eine sehr vereinfachte Welt wahr“, sagt der Hirnforscher John-Dylan Haynes, der als Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin arbeitet. „Unser Gehirn ist ständig damit beschäftigt, Informationen zu verdichten, um ein sinniges Bild entstehen zu lassen. Ein wichtiges Werkzeug, damit die Informationsflut nicht aus dem Ruder läuft, ist die Aufmerksamkeitssteuerung: Wir richten unsere Aufmerksamkeit normalerweise auf Dinge, die ungewöhnlich sind. Wenn wir beispielsweise in einem abgelegenen Forsthaus wohnen, werden wir bei jedem vorbeifahrenden Auto hellhörig. Wer aber an einer stark befahrenen Straße lebt, der hört irgendwann die vorbeifahrenden Autos kaum noch.“ Sprich: Der Zauberkünstler, der alle auf seine rechte Hand achten lässt, kann mit seiner linken tun und lassen, was er möchte. Der Hochstapler nutzte laut Veelen wiederum Uniformen und Titel, um sein Publikum durch den Glanz des Edlen vom nicht Vorhandenen abzulenken.

Hirnforscher John Dylan Haynes weiß: Nichts und niemand täuscht so gut wie unser Gehirn. © Eva Häberle
Im Grunde ist es so, dass das Bild, welches wir von der Welt haben, nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, sondern nur mit unterschiedlichen Gehirnzuständen. Als Laie kann man die Vorstellung haben, dass das, was wir durch die Augen sehen und durch die Ohren hören, ein perfektes Abbild der Wirklichkeit ist. Heute weiß man, dass das Gehirn als Mittler zwischen den Sinnen und der Wirklichkeit vereinfacht, verändert und verzerrt – so lange, bis alles einen Sinn ergibt. „Bestes Beispiel sind die Augen: Auf unserer Netzhaut haben wir ein zweidimensionales Bild. Trotzdem gaukelt unser Gehirn uns vor, wir sähen die Welt in 3D“, sagt Haynes.
Die Müller-Lyer-Täuschung gehört zu den bekanntesten optischen Täuschungen. Auf den ersten Blick ist ganz klar: Die Linie mit den Pfeilen nach innen ist die längere. Erst wenn wir nachmessen, stellen wir verwundert fest, dass beide Linien gleich lang sind. Tatsächlich haben wir die Wirklichkeit verzerrt wahrgenommen.
Die Welt in unseren Köpfen
„Bei optischen, akustischen oder sonstigen sinnhaften Illusionen wird in unseren Köpfen ein reales Ding der Wirklichkeit wird verzerrt. Jeder von uns unterliegt im Alltag Illusionen. Anders sieht es aus beim Phänomen der Halluzinationen: Hier wird etwas Nicht-Existierendes im Gehirn erst geschaffen – sei es durch Drogen, Krankheiten oder sonstige Fehler im Gehirn“, sagt Haynes. Dabei wird besonders deutlich, dass nur unser Gehirn bestimmt, was wir als Realität wahrnehmen. Einige interessante Fälle zu solchen Phänomenen hat der New Yorker Neurologe Oliver Sacks in seinem Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ gesammelt. In einem Fall sah eine Gehirntumor-Patientin immer wieder Szenen aus ihrer indischen Heimat vor ihren Augen. Sie erschienen ihr im Moment der Halluzination immer als real – und glücklicherweise als schön. Erst nach den Anfällen war ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit im Krankenhaus gelegen hatte. In einem anderen Fall hörte eine ältere Dame im Altersheim von heute auf morgen Musik aus ihren Kindheitstagen in ihrem Kopf – und zwar so laut, dass sie kaum noch etwas anderes hören konnte. Solche gefühlten Wahrheiten können weder Zauberkünstler noch Hochstapler erschaffen. Das schafft nur der größte Gaukler in der Runde: unser Gehirn, in dem… Tack, tick, tack, tick. …eben auch manchmal alles verkehrt läuft.
Jan Logemann verzaubert sein Publikum mit verblüffenden Tricks, Silke Kettner versprüht als Klinikclownin positive Energie. Lesen Sie hier unsere Geschichte über sie.