
„Pflege ist Herzenssache“
Im Alter, nach einer schweren Krankheit oder wegen einer Behinderung: Auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, ist oft eine besondere Herausforderung. Für den Pflegebedürftigen selbst, aber auch für die Angehörigen. Das Thema Pflege ist mit vielen Ängsten und teils enormer Belastung verbunden. „Deswegen verdienen Menschen, die andere pflegen, größten Respekt“, sagt Nicole Braun, Leiterin Pflege bei der Pflegekasse der vivida bkk. Im Interview erzählt sie, was im Pflegefall zu tun ist, wie die vivida bkk ihre Kunden unterstützt und warum auch die Selbstpflege nicht zu kurz kommen darf.
Frau Braun, ein Angehöriger wird zum Pflegefall – was heißt das eigentlich für die Pflegenden?
Eine solche Situation kann ganz unvermittelt von heute auf morgen eintreten – und dann muss alles ganz schnell gehen. Sowohl der Betroffene als auch die Angehörigen haben dann kaum Zeit, sich auf die neue Situation einzustellen. Sie müssen viele Entscheidungen treffen, beispielsweise, welche Form der Versorgung die passende ist. Außerdem müssen Anträge gestellt werden, etwa, um den Pflegegrad zu bestimmen. Davon hängt ab, welche Pflegeleistungen erstattet werden. Das alles führt verständlicherweise dazu, dass sich die meisten Menschen in einer solchen Situation erst mal überfordert fühlen. Es gibt aber auch den anderen Fall: Ältere Menschen möchten sich oft nicht eingestehen, dass im Alltag immer weniger „geht“, und scheuen sich davor, ihre Angehörigen rechtzeitig zu informieren. Oder Angehörige unterstützen schon in der Pflege und merken gar nicht, dass der Umfang mit der Zeit zugenommen hat. Regelmäßiges Nachfragen, ein waches Auge und nicht zuletzt zueinander ehrlich zu sein sind deshalb enorm wichtig.

© Andreas Reeg
Zur Person: Nicole Braun ist ausgebildete Pflegeberaterin, Teamleiterin eines Pflegeteams bei der vivida bkk und seit fast 25 Jahren in der Pflegeversicherung tätig – also ein echtes Urgestein. In ihrem Berufsalltag ist sie mit ganz unterschiedlichen Pflegefällen konfrontiert. Aufgrund ihrer großen Erfahrung haben sie und ihr Team jede Menge Tipps rund um das Thema Pflege parat und immer ein offenes Ohr für die Fragen der Betroffenen.
Wie sollte man also am besten vorgehen?
Auf jeden Fall Unterstützung suchen und sich beraten lassen. Niemand muss sich allein um alles kümmern. Dafür gibt es beispielsweise unsere kostenlose Pflegeberatung. Jeder Kunde bekommt automatisch einen Gutschein für die Pflegeberatung zugeschickt, sobald er einen Pflegeantrag stellt. Bei der Pflegeberatung arbeiten wir eng mit der deutschlandweit aktiven Medical Contact AG zusammen, die auf Pflege-Coaching spezialisiert ist. So gewährleisten wir, dass jeder Kunde auch vor Ort eine persönliche Beratung bekommen kann. Dabei geht es dann beispielsweise um Unterstützung beim Pflegeantrag. Oder der Pflegeberater kommt bei unseren Kunden vorbei und berät sie, welche baulichen Veränderungen sinnvoll sind. Wir als Pflegekasse kümmern uns außerdem um alles Organisatorische in Bezug auf die Abrechnung.
Welche Pflichten haben Angehörige, was sollten sie aber auch abgeben?
Zuallererst: Keiner ist dazu verpflichtet, pflegebedürftige Angehörige selbst zu versorgen. Diese Verantwortung zu übernehmen, ist ein großer Schritt und sollte im Vorfeld reiflich überlegt sein. Natürlich möchten sich die meisten um ihre Angehörigen selbst kümmern – solange es geht. Aber viele sind sich der Tragweite einer solchen Entscheidung gar nicht bewusst. Im Vorfeld sollte man daher ganz genau abklären, wie hoch der Pflegeaufwand ist, wie die Wünsche des Pflegebedürftigen aussehen und welche Bedürfnisse und Grenzen man selbst hat. Oft ist es Menschen auch unangenehm, von den eigenen Angehörigen gepflegt zu werden. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Laienpfleger sollten sich selbst ehrlich beantworten, ob sie mit den täglich anfallenden Aufgaben wie Körperpflege, dem Gang zur Toilette oder dem Anreichen von Essen tatsächlich gut umgehen können. Gerade die Nahrungsaufnahme kann unter Umständen extrem lange dauern und erfordert eine Menge Geduld. Wer hier nicht ehrlich zu sich ist, tut sich selbst und auch dem Pflegebedürftigen keinen Gefallen. Genau in solchen Fällen unterstützt die Pflegeberatung. Wir sprechen mit den Angehörigen, hören zu und helfen ihnen, eine Entscheidung zu treffen. Wer die Pflege selbst übernehmen möchte, kann bei den ortsansässigen Pflegediensten eine Pflegeschulung machen. Auch hier helfen wir gerne bei der Vermittlung und übernehmen die Kosten für einen solchen Kurs.
Aus einer Forsa-Erhebung geht hervor: Rund 66 Prozent der 18- bis 39-jährigen Befragten fühlen sich häufig oder manchmal durch ihre Pflegetätigkeit psychisch überfordert.
Mit welchen Ängsten haben Betroffene oder ihre Angehörigen am häufigsten zu kämpfen?
Das kann man nicht pauschalisieren. Wenn sich das eigene Leben oder das eines geliebten Menschen durch eine Pflegebedürftigkeit plötzlich ändert, ist Angst eine völlig normale Reaktion. Diese Angst sollte man auch zulassen. Indem man sich professionelle Hilfe holt, beispielsweise beim Hausarzt oder bei einer Beratungsstelle, kann man ihr aber begegnen.
Was sind denn typische Anzeichen für Überforderung und was können Betroffene tun?
Pflege ist physisch, aber gerade wenn es um nahe Angehörige geht, auch psychisch immens anstrengend. Daher ist die Gefahr groß, sich aus einem falschen Pflichtgefühl heraus völlig zu überfordern und die eigenen Bedürfnisse zum Wohle des Pflegebedürftigen komplett hintenanzustellen. Selbstpflege ist deswegen ein ganz wichtiger Punkt in der Pflege. Wenn man sich überhaupt nicht mehr auf sich selbst konzentrieren und keine Auszeit mehr genießen kann oder auch privat nichts mehr auf die Reihe kriegt, sollte man unbedingt auf diese Warnsignale hören. Pflege kann ein 24-Stunden-Job sein – und das macht der Körper nicht lange mit. Um einmal durchzuatmen und Zeit für sich selbst zu haben, gibt es beispielsweise die Kurzzeit- und Verhinderungspflege.

© Andreas Reeg
Was kann man selbst im Vorfeld tun, um sich für den möglichen Pflegefall vorzubereiten?
Mit dem Thema Pflege setzt man sich natürlich nicht gerne auseinander. Trotzdem machen eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht Sinn. So entlastet man seine Angehörigen, die dann im Falle eines Falles keine schwerwiegenden Entscheidungen treffen müssen, weil diese schon dokumentiert sind. Sinnvoll ist auch eine private Vorsorge. Die gesetzliche Pflegeversicherung ist lediglich eine Art Teilkaskoversicherung, weil nur ein Teil der Pflegekosten für die häusliche und stationäre Pflege übernommen wird.
Warum liegt Ihnen das Thema Pflege so am Herzen?
Ich bin schon den Großteil meines Berufslebens im Pflegebereich tätig. Im Laufe der Jahre habe ich viele Schicksale, aber auch viele glückliche Momente von Betroffenen miterlebt. Daher weiß ich aus Erfahrung, dass es für Pflegebedürftige und ihre pflegenden Angehörigen eine sehr große Erleichterung ist, wenn ihnen jemand hilft – fachlich wie auch persönlich. Allein das Pflegeversicherungsgesetz ist sehr umfangreich und als Nichtexperte verliert man da schnell den Durchblick. Auch ist jeder Mensch und damit jeder Fall anders. Ich unterstütze bei der Beantragung von Leistungen, gebe Tipps und vor allem höre ich zu. Es ist wahnsinnig wichtig, dass man sich die Sorgen und Nöte auch einfach mal von der Seele reden kann. Der zwischenmenschliche Kontakt und das Bewusstsein, dass ich Menschen mit meinem Wissen unterstützen kann, machen mir große Freude. Pflege ist für mich einfach Herzenssache.
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