
Wisch und weg – Ein Tinderspiel?
Online-Dating wird in meinem Freundeskreis heiß diskutiert: Obwohl wir uns sonst in vielerlei Hinsicht – Nazis sind scheiße, die Wohnungspreise in Großstädten sind viel zu hoch, Bayern-Fans sind nur Erfolgs-Fans – einig sind, führt die Debatte um Sinn und Unsinn von Tinder, Parship & Co. regelmäßig zu emotionalen Ausbrüchen. Hier scheiden sich die Geister: Geht es um die große Liebe oder doch nur darum, „ein Rohr zu verlegen“? Das muss ich ausprobieren. Tinder ist eben angesagt.
Auf Deutsch übersetzt heißt die Plattform ja „Zunder“. Sie verspricht sozusagen, der Brandbeschleuniger für die nächste Liebelei zu sein. Also geselle ich mich auf die Dating-Piazza der digitalen Postmoderne zur selbstverherrlichenden Generation „Wisch und Weg“. Ich mache mich auf eine Sintflut an überzogener Selbstdarstellung und possenhafter Eigeninszenierung gefasst.
Mit einem Wisch ist alles…?
Die Farce kann beginnen: Radius auf zehn Kilometer einstellen. Rechts wischen = gefällt mir. Links wischen = geht gar nicht. Links, links, links, links – vielleicht einmal rechts. Sobald die Person hinter dem Bild ebenfalls nach rechts wischt, öffnet sich ein Chat-Kanal zum direkten Flirt – ein Match. So sitze ich auf meiner Couch, wischend und wedelnd wie Hermine Granger aus Harry Potter bei „Wingardium Leviosa“ und ehe ich mich versehe, habe ich einen Krampf im Daumen vom vielen Wegwischen skurriler Angebote – zu prollig, zu billig, zu nackt.
Abschleppen statt Verführen
Zwischen vielen, teilweise gruseligen Nachrichten und Offerten, parshipert sich alle elf Minuten die eine oder andere penetrante Knick-Knack-Anfrage ins Postfach. Keine Seltenheit, denn offensichtlich sucht hier niemand einen Partner fürs Leben, sondern nur eine Nacht in Sünde. Für ihre Tiefgründigkeit sind diese forschen Singles mit Niveau jedenfalls nicht sonderlich bekannt.
Mein erster Eindruck ist wie erwartet: Tinder besitzt eine absurde Ähnlichkeit mit einer Castingshow im K.-o.-Prinzip: Man bewirbt sich, beurteilt die Performance des anderen, siebt aus. So wie auch in all den anderen unzähligen Kupplungsmaschinen. Wäre es jetzt nicht ein Leichtes, Tinder in den Kanon gängiger Online-Dating-Klischees mit aufzunehmen?
Die ideale Bühne zur Eigenpräsentation
Ich muss allerdings zugeben, dass es bei Tinder um einiges leichter ist, jemanden kennen zu lernen. Es ist ein effizienter Weg, schon mal eine Art „Vorscreening“ zu machen oder überhaupt Kontakt herzustellen. Aber das Geschehen auf diesem Online-Marktplatz hat dort, wo Simulieren die Regel ist, mit meinem persönlichen Ideal von Kennenlernen kaum etwas zu tun. Im Gegenteil: Es gleicht einem obszönen, verzweifelten Kasperletheater. Annähernd jedes Profilbild ist inszeniert und strotzt nur so vor Schönheitsfiltern und semi-professioneller Bildbearbeitung.
Echtheit und Persönlichkeit sind zwar viel gepriesene Tugenden, aber hier nur Komparsen.
Mein täglich‘ Feedback gib mir heute
Je länger ich mich auf dem Online-Rummel tummle, desto mehr scheint mir, als geschehe dies in Verheißung auf ein besseres Selbstwertgefühl durch Likes und Matches. Für einen Ego-Push genau das Richtige – aber für die Partnersuche? Wie bringt man denn seine guten Absichten im Internet glaubhaft rüber, wo jedermann dem anderen in die Taschen tindern kann, dass sich die virtuellen Balken biegen? Wie soll ich bei all dem vorgegaukelten Perfektionismus à la carte noch mitmischen, geschweige denn mitwischen? Wo bleibt die Ehrlichkeit?
Mut zur Hässlichkeit
Im Grunde würde mehr Mut zur „Hässlichkeit“ und Natürlichkeit, weg von den Gesellschaftsidealen und Filtern, die Profile wieder ein wenig spannender, ehrlicher und persönlicher machen. Denn Persönlichkeit hat jeder Mensch. Es ist nicht nötig, eine neue zu erfinden. Es ist nicht nötig, bestens gelaunt, immer cool oder spontan zu wirken, wenn die Wahrheit anders aussieht. Einzigartig und echt zu sein bringt letztlich auch einzigartige und echte Beziehungen. Nicht umsonst sang Gloria Gaynor das Lied „I am what I am“.
Wie Sie Ihr Charisma zum Strahlen bringen berichtet Dr. Eva Wlodarek im Interview.
Mehr Sein statt Schein
Sicherlich lässt sich das ein oder andere Techtelmechtel auch aus dem virtuellen ins reale Leben verlegen, keine Frage. Wie echt es dann tatsächlich ist, sei dahingestellt. Ich finde: Menschen, denen ich im realen Leben begegne, zeigen mir unbewusst viel mehr von sich und nicht nur das, was sie mich in einer Nachricht oder auf einem Foto sehen lassen wollen. Denn dort gleicht der Schein dem Sein nur wenig. Körper und Stimme transportieren deutlich mehr Persönlichkeit. Darauf kommt es letztlich an. Also worauf wischt ihr noch?

Jessica Meyer © Steffen Müller-Klenk
Über die Autorin: Schon so manch Skurriles lief Jessica Meyer in der digitalen Single-Welt über den Weg. Egal, wie akribisch sie versucht, auf der aktuellen Tinderwelle zu schwimmen - mit dem digitalen "Brandbeschleuniger" wird sie nicht warm. Die begeisterte Hobbyfußballerin liebt das Reisen, neue Kulturen zu entdecken und deren Menschen kennenzulernen. Von Angesicht zu Angesicht.