
Freie Fahrt im Oberstübchen – Wissen will gelernt sein
Taxifahrerinnen und Taxifahrer gibt es viele in der Millionenmetropole London. Sie fahren unscheinbare Kombis, langweilige Limousinen oder Kleinbusse mit mehr oder weniger großen Beulen in der Stoßstange. Aber es gibt auch eine Klasse an Taxis, die heraussticht: das Black Cab. Fahrer eines solchen Taxis darf nur werden, wer einen anspruchsvollen Wissenstest besteht.
Erst lernen, dann fahren
„The Knowledge“ heißt der Test, also: das Wissen. Und er hat es in sich: Unter anderem muss sich der Fahrer 25.000 Straßenverläufe in einem Radius von sechs Meilen um die Kreuzung Charing Cross einprägen. Auf Zuruf zählt er dann – je nach Uhrzeit und Verkehrslage – fehlerfrei alternative Routen zwischen zwei dieser Straßen auf. Natürlich ohne Navigationsgerät und Karte. Durchschnittlich dauert es 34 Monate, bis ein Anwärter den Test besteht. Danach ist er buchstäblich ein veränderter Mensch: Wissenschaftler des University College London haben herausgefunden, dass Fahrer, die den Test bestanden haben, hinterher einen vergrößerten Hippocampus haben. Das ist die Region im Gehirn, die unter anderem dafür verantwortlich ist, Informationen aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis zu übertragen. Das Gehirn hat sich durch das Lernen physisch verändert.
Die biologischen Zeitfenster nutzen
Bisher ist noch nicht abschließend geklärt, was beim Lernen im Gehirn genau geschieht. Fest steht: Es entstehen neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Rund 100 Milliarden solcher Zellen, auch Neuronen genannt, hat der Mensch. Sie sind über Synapsen miteinander verbunden. Durch das Lernen baut der Mensch neue Synapsenverbindungen auf: Es entstehen neue neuronale „Autobahnen“. Je intensiver wir etwas gelernt haben, desto besser sind diese Bahnen ausgebaut. Dadurch verändert sich, wie wir auf unsere Umwelt reagieren: Je häufiger wir mit einer bestimmten Situation konfrontiert werden, desto wahrscheinlicher ist, dass wir ein bestimmtes Verhalten zeigen.
Erkenntnisse der Lernforschung
„Auf einige Dinge, die wir lernen, sind wir naturbedingt vorbereitet“, erklärt Elsbeth Stern, Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich. „Es gibt etwa Zeitfenster im Kindesalter, in denen in uns ein biologisches Programm abläuft, das uns besonders gut laufen, zählen und sprechen lernen hilft. Wer ein junges Kind hat, weiß, wie gerne es Dinge zählt oder neugelernte Wörter benutzt. Würde ein Kind bis zum vierten Lebensjahr gar keine Sprache hören, fiele es ihm hinterher sehr schwer, noch gut sprechen zu lernen.“ Für das Bruchrechnen gibt es in uns kein biologisches Programm – deshalb muss hier die Schule ran. Mit dem Bruchrechnen kommt tatsächlich auch ein Bruch ins Lernen: Denn dafür müssen wir im Gehirn nicht nur neue neuronale Autobahnen bauen, sondern einige bestehende auch vernachlässigen. „Nachdem wir als Kleinkind zählen gelernt haben, sind wir sehr gut auf natürliche Zahlen vorbereitet. Es fällt uns leicht zu verstehen, dass drei weniger ist als fünf. Und zwischen drei und fünf liegt nur die Vier“, sagt Stern. „Lerne ich jetzt das Bruchrechnen, muss ich das Konzept, das ich mir von Zahlen aufgebaut hatte, komplett überwerfen. Ja, drei ist zwar weiterhin weniger als fünf, aber ein Drittel ist mehr als ein Fünftel. Und dazwischen liegt nicht nur ein Viertel, sondern unendlich viele weitere Brüche. So etwas radikal Neues zu lernen, ist eine Herausforderung für jeden.“
Das große Ganze verstehen
Wie schnell wir etwas lernen, hängt von vielen Faktoren ab, etwa: wie effizient wir Informationen verarbeiten, beispielsweise abstrakte Muster erkennen, oder wie gut wir darin sind, Wichtiges zu fokussieren und Unwichtiges auszublenden. Hinzu kommt schlussfolgerndes Denken, also wie gut es uns gelingt, aus bestehender Information neues Wissen abrufen zu können. „Wir Menschen sind biologisch einfach unterschiedlich ausgestattet. Das müssen wir auch beim Lernen akzeptieren“, sagt Stern. „Deshalb fällt manchen etwa das Bruchrechnenlernen einfacher als anderen, die dafür vielleicht andere Dinge besser können. Wem es schwerer fällt, der braucht allerdings oft nur mehr Lerngelegenheiten, um ein gutes Niveau zu erreichen. Sprich: mehr Zeit, mehr Aufgaben, mehr Anschauungsmaterial – aber möglichst ohne das Stigma, den der Begriff Nachhilfeunterricht trägt.“
Lernen hat sich gewandelt
Glücklicherweise erkennen das auch immer mehr Schulen. Wir lernen heute anders als früher. „Als ich zur Schule gegangen bin, ließ unser Mathelehrer zu Beginn jeder Stunde alle Schülerinnen und Schüler aufstehen und eine Einmaleins-Aufgabe lösen“, erinnert sich Stern. „Wer sie richtig gelöst hatte, durfte sich setzen. Am Ende standen immer die Gleichen. Statt sie zu motivieren, hat man ihnen vermittelt: Mathe wird eh nie was für dich sein. So eine Praxis frustriert die Schüler zutiefst.“ Heute geht es mehr darum, die Lernenden das große Ganze verstehen zu lassen. Den Zahlenraum zu entdecken und zu erkunden, bringt einen weiter, als auswendig zu lernen, wie viel sieben mal neun ist. Klar ist auch: Nicht jeder muss Mathe oder Physik als Lieblingsfach haben. Aber jeder gesunde Mensch ist mit den richtigen Lernstrategien in der Lage, die Grundlagen zu lernen.

© Gert Albrecht
Schule muss nicht Spaß machen
Die Schule hat die Aufgabe, die Schüler an Themen heranzuführen, die sie sonst nicht lernen würden. Darunter sind – naturgemäß – auch Themen, die nicht allen gleichermaßen Spaß machen. Aber Spaß ist gar kein so wichtiger Faktor beim Lernen. Viel wichtiger sei laut Stern das Kompetenzerleben. Sprich: zu sehen, dass man etwas gelernt hat und das Gelernte auch anwenden kann. Leistungsvergleiche zwischen den Lernenden zu messen, sei zwar auch wichtig, allerdings dürfe das nicht zu früh geschehen. Wichtiger sei es, den Lernenden die individuellen Fortschritte zu zeigen, um die Motivation aufrechtzuerhalten: „Sich kompetent zu fühlen, ist etwas Schönes. Das Gefühl zu haben: Bis gestern konnte ich das nicht, und jetzt kann ich’s! Das gibt einen richtigen Kick.“ Das gilt beim Lesenlernen in der Schule genauso wie beim Brezelnlegen in der Bäckerausbildung oder beim Aufschlagüben beim Tennis. Überhaupt ist das Lernen kaum eine Frage des Alters. „Das ist ein großer Mythos. Von den angesprochenen biologischen Programmen abgesehen, lernen Kinder nicht schneller als Erwachsene“, sagt Stern. „Wie schnell wir etwas verinnerlichen, hängt nämlich maßgeblich mit unseren Erfahrungen zusammen. Erwachsene haben hier meistens sogar einen Vorteil.“
Lernen kennt kein Alter
Nun fragt sich mancher: Warum lernen Kinder dann schneller Fremdsprachen als Erwachsene? Die Antwort: tun sie gar nicht. „Zieht eine Familie in ein fremdes Land, erreicht das sechsjährige Kind natürlich schneller das Sprachniveau seiner Altersklasse als der dreißigjährige Vater, der viel mehr lernen muss, um die von ihm erwartete Sprachfähigkeit zu erreichen. Hinzu kommt, dass das Kind im Alltag und in der Schule viel mehr Lerngelegenheiten bekommt.“ Dass wir auch als Erwachsene ein beeindruckendes Lernpotenzial haben, zeigt allein schon das Beispiel der Black-Cab-Fahrer. Was Hänschen nicht lernt, kann Hans also allemal noch lernen.

© ETH Zürich
Elsbeth Stern ist Psychologin und Professorin für Lehr-Lern-Forschung an der ETH Zürich.
Dem Oberstübchen ordentlich einheizen? Dann haben wir hier genau den richtigen Schmalz für´s Gehirn!
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